Nachteilsausgleich in der Sekundarstufe I
Die rechtlichen Grundlagen
Nachteilsausgleich - ab wann und in welchem Fach?
Von Anfang bis Ende der Sekundarstufe I besteht die Möglichkeit, einen Nachteilsausgleich in allen Fächern zu erhalten. Da die betreffenden Angaben im LRS-Erlass unzureichend und teilweise verwirrend sind, wird im Folgenden auf die sog. Arbeitshilfe sowie auf die 'Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I' (APO-S I) Bezug genommen, um zu einer Klärung der wichtigsten Fragen zu kommen.
Nachteilsausgleich - wobei?
Aus allen schulrechtlichen Vorgaben geht hervor, dass ein Nachteilsausgleich für alle Leistungsüberprüfungen in allen Fächern im gesamten Verlauf zu gewähren ist. Eine Beschränkung auf bestimmte Fächer oder bestimmte Formen der Überpüfungen gibt es nicht.
Welche Bedingung muss vorliegen?
Der Anspruch auf einen Nachteilsausgleich besteht dann, wenn ein Kind besondere Auffälligkeiten im Bereich des Lesens und / oder Schreibens hat und deswegen einer zusätzlichen Fördermaßnahme bedarf. Wie bereits im LRS-Erlass wird auch in der Arbeitshilfe und in der APO-SI an keiner Stelle darauf hingewiesen, dass eine Attestvorlage erforderlich ist, damit ein Nachteilsaugleich gewährt wird.
Welche Form kann der Nachteilsausgleich haben?
Die Arbeitshilfe nimmt hier lediglich Bezug zum LRS-Erlass, in dem eine Reihe möglicher Nachteilsausgleiche aufgelistet werden. Insofern wird auch hier wiederumeher Verwirrung als Klarheit gestiftet.
Etwas deutlicher ist die APO-SI, wonach der Schulleiter Zeitverlängerungen veranlassen kann, aber auch sonstige Ausnahmen vom Prüfungsverfahren gewähren kann. Diese sind "Nutzung von Werkzeugen, technischen Hilfsmitteln, besonderen räumlichen oder personellen Bedingungen".
Es gilt der Grundsatz, dass der gewährte Nachteilsausgleich so gestaltet sein muss, dass der individuelle Nachteil auch tatsächlich ausgeglichen werden kann. Eine Zeitzugabe bei einem Schüler mit verlangsamtem Lesetempo wäre also sinnvoll, nicht aber bei einem Lernenden, der Schwierigkeiten mit der Verarbeitung zu kleiner Schriftzeichen oder zu geringer Zeilenabstände hat. In diesem Fall wäre eine andere Textgestaltung angebracht. Natürlich ist es auch denkbar, dass mehrere Maßnahmen gleichzeitig zu gewähren sind, dann nämlich, wenn mehrere Nachteile bei einem Schüler oder einer Schülerin vorliegen.
Wie läuft das Verfahren ab?
Die schulrechtlichen Vorgaben regeln eindeutig,
dass die Schule erkennen muss, ob ein Nachteilsausgleich
erforderlich ist - und welcher. Die Schule kann bzw. darf nicht darauf warten, ob bzw. wann die Erziehungsberchtigten einen entsprechenden Antrag stellen. Gleichwohl haben sie aber das Recht
dazu. Im Idealfall sollten Schule und Erziehungsberechtigte in der Angelegenheit frühzeitig und eng zusammenarbeiten.
Umsetzung in der Praxis - fünf verbreitete Irrtümer
Zahlreiche Schulen setzen die Bestimmungen zum Nachteilsausgleich im Sinne des LRS-Erlasses und damit zum Wohle der betroffenen Schülerinnen und Schüler um. Es gibt jedoch auch eine erhebliche Anzahl von Schulen, an denen die rechtlichen und pädagogischen Vorgaben bzgl. des Nachteilsausgleichs nicht oder nur unzureichen erfüllt werden. Diese unbefriedigende Situation lässt sich u.a. auf eine Reihe von folgenden fünf sehr verbreiteten Irrtümern zurückführen:
Irrtum Nr 1: Der Nachteilsausgleich ist nur eine Kann-Bestimmung.
Irrtum Nr. 2: Für den Nachteilsausgleich ist ein Attest notwendig.
Irrtum Nr. 3: Als Nachteilsausgleich wird bereits Notenschutz gewährt. Mehr ist nicht möglich.
Irrtum Nr. 4: Der Nachteilsausgleich gilt nur für bestimmte Fächer.
Irrtum Nr. 5: Als Nachteilsausgleich kommt nur eine Zeitverlängerung in Frage.
Kommentare:
Der Nachteilsausgleich ist eine Kann-Bestimmung - ein Irrtum!
Dass die Schule Nachteilsausgleiche gewähren muss, ergibt sich aus allen relevanten Rechtsnormen, so etwa aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des GG sowie § 2 Absatz 5 des Schulgesetzes NRW. Er stellt eine Verpflichtung der Schule dar.
Verantwortlich für das Missverständnis scheint die Formulierung des Abschnitts 4.1 im LRS-Erlass zu sein, die mehrere Optionen des Nachteilsausgleichs auflistet, eingeleitet mit dem Begriff „...kann...“ . In der Tat fehlt dem Erlass eine eindeutige Formulierung, dass auf jeden Fall mindestens eine der Formen des Nachteilsausgleichs zu gewähren ist, und es nicht ins Belieben der Schule oder der Lehrkraft gestellt ist, ob überhaupt ein Nachteilsausgleich gewährt wird. Die ‚kann’-Formulierung bezieht sich lediglich auf die verschiedenen Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs.
Ein weiterer Grund dafür, den Nachteilsausgleich als optional zu betrachten, liegt in der Formulierung der APO-S I § 6 Abs. 8 begründet, die ähnlich wie der LRS-Erlass den Nachteilsausgleich – entgegen der allgemeinen Rechtsauffassung - als Möglichkeit und nicht als Anspruch des Kindes darstellt.
Es gilt der Grundsatz: Hätte die betreffende Person bei der Leistungsüberprüfung einen Nachteil gegenüber einer nicht betroffenen Personen, so ist dieser Nachteil auszugleichen. Andernfalls wäre keine Chancengleichheit gegeben.
Für den Nachteilsausgleich ist ein Attest notwendig - ein Irrtum!
Diese Auffassung ist äußerst weit verbreitet, an Schulen, in Elternkreisen, unter Therapeuten und nicht zuletzt auf zahlreichen Internetseiten. Es gibt in NRW keine schulrechtliche Grundlage für diese Sichtweise. Im Gegenteil, sowohl der LRS-Erlass als auch diverse offizielle Mitteilungen der Aufsichtsbehörden betonen, dass ein Attest für die Anerkennung von LRS nicht notwendig ist.
Der Notenschutz darf mit einem Nachteilsausgleich verrechnet werden - ein Irrtum!
Auch diese Auffassung beruht auf Unkenntnis oder Missverständnissen. Der Notenschutz ist keine Form des Nachteilsausgleichs. Von LRS betroffenen Schülerinnen und Schüler haben in NRW Anspruch auf beide Maßnahmen.
Der Nachteilsausgleich gilt nur für bestimmte Fächer - ein Irrtum!
Diese einschränkende Sichtweise ist nicht korrekt. Sie beruht möglicherweise auf entsprechende Ausführungen unter Punkt 4.1 im LRS-Erlass. Dort werden mögliche Nachteilsausgleiche nur im Kontext der Feststellung der Rechtschreibleistungen genannt, und auch nur in Deutsch und den Fremdsprachen. Abgesehen davon, dass eine derartige Einschränkung sachlich nicht nachvollziehbar wäre, nehmen alle übrigen schulrechtlichen Vorgaben keine Begrenzung des Nachteilsausgleichs auf einzelne Fächer vor. Der Nachteilsausgleich gilt in allen Fächern. Dennoch wird diese offizielle Regelung nicht in allen Schulen umgesetzt.
Als Nachteilsausgleich kommt nur eine Zeitverlängerung in Frage - ein Irrtum!
Für diese Einschränkung gibt es weder in den KMK-Richtlinien noch in der APO-S I, noch in den Arbeitshilfen und letztlich auch nicht im LRS-Erlass eine Grundlage. Eine Beschränkung der möglichen Maßnahmen auf eine Zeitverlängerung ist an keiner Stelle vorgesehen. Der NA kann zwar aus einer Zeitverlängerung, aber auch aus anderen Maßnahmen bestehen. Entscheidend ist, ob der gewährte NA den tatsächlich vorliegenden Nachteil des Betroffenen kompensiert. Pauschale Maßnahmen, etwa eine Zeitverlängerung für alle Schüler einer Schule, sind nicht gestattet. Die Art des Nachteilsausgleichs ist immer individuell festzulegen (vgl. z.B. Arbeitshilfe Sek I, S.4f). Die Begründung ist darin zu sehen, dass die Gruppe der Legastheniker äußerst heterogen bzgl. ihrer Nachteile ist. Verlangsamtes Lese- und Schreibtempo liegt zwar bei vielen Betroffenen vor, aber längst nicht bei allen. Und es ist bei manchen Betroffenen nicht die alleinige Form der Benachteiligung. Die schulrechtlichen Vorgaben listen an verschiedene Stellen mögliche Maßnahmen auf:
zeitlich (verlängerte Arbeitszeiten)
technisch (z.B. Laptop)
räumlich (z.B. ablenkungsarme Umgebung)
personell (z.B. Hilfe bei der Arbeitsorganisation)
Es steht den Schulen immer auch frei, weitere Maßnahmen als Nachteilsausgleich zu ergreifen.